Eichendorffs Gedicht
"In einem kühlen Grunde" im Kontext von "Ahnung und Gegenwart"
(20.Kapitel)
Während er dies alles so überdachte,
fiel ihm ein, wie Leontins Schloß ganz in der Nähe von hier sei. Er fühlte ein recht
herzliches Verlangen, diesen seinen Bruder und jene Waldberge wiederzusehen. Der Gedanke
bewegte ihn so, daß er sogleich sein Pferd bestieg und von dem Berge hinab die schattige
Landstraße wieder einschlug.
Die Sonne stand noch hoch, er hoffte den Wald noch vor Anbruch der Nacht zurückzulegen.
Nach einiger Zeit erlangte er einen hohen Bergrücken. Die Lage der Wälder, der Kreis von
niederern Bergen ringsumher, alles kam ihm so bekannt vor. Er ritt langsam und sinnend
fort, bis er sich endlich erinnerte, daß es dieselbe Heide sei, über welche er in jener
Nacht, da er sich verirrt und das seltsame Abenteuer in der Mühle bestanden, sein Pferd
am Zügel geführt hatte. Der Schlag der Eisenhämmer kam nur schwach und verworren durch
das Singen der Vögel und den schallenden Tag aus der fernen Tiefe herau£ Es war ihm, als
rückte sein ganzes Leben Bild vor Bild so wieder rückwärts, wie ein Schiff nach langer
Fahrt, die wohlbekannten Ufer wieder begrüßend, endlich dem alten, heimatlichen Hafen
bereichert zufährt.
Ein Gebirgsbach fand sich dort in der Einsamkeit mit seiner plauderhaften Emsigkeit neben
ihm ein. Er wußte, daß es der nämliche sei, der die schöne Wiese von Leontins Schlosse
durchschnitt, und folgte ihm daher auf einem Fußsteige die Höhen hinab. Da erblickte er
nach einern langen Wege unerwartet auch die berüchtigte Waldmühle im Grunde wieder. Wie
anders, gespensterhaft und voll wunderbarer Schrecken hatte ihm damals die phantastische
Nacht diese Gegend ausgebildet, die heute recht behaglich im Sonnenscheine vor ihm lag.
Der Bach rauschte melancholisch an der alten Mühle vorüber, die halbverfallen dastand
und schon lange verlassen zu sein schien; das Rad war zerbrochen und stand still.
Auf der einen Seite der Mühle war ein schöner, lichtgrüner Grund, über welchem frische
Eichen ihre kühlen Hallen woben. Dort sah Friedrich ein Mädchen mit einem reinlichen,
weißen Kleide am Boden sitzen, halb mit dem Rücken nach ihm gekehrt. Er hörte das
Mädchen singen und konnte deutlich folgende Worte verstehen:
In einem kühlen Grunde,
Da geht ein Mühlenrad,
Mein Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.
Sie hat mir Treu versprochen,
Gab mir ein'n Ring dabei,
Sie hat die Treu gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.
Ich möcht als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen
Und gehn von Haus zu Haus.
Ich möcht als Reiter fliegen,
Wohl in die blutge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.
Hör ich das Mühlrad gehen,
Ich weiß nicht, was ich will -
Ich möcht am liebsten sterben,
Da wärs auf einmal still.
Diese Worte, so aus tiefster Seele
herausgesungen, kamen Friedrich in dem Munde eines Mädchens sehr seltsam vor. Wie
erstaunt, ja wunderbar erschüttert aber war er, als sich das Mädchen während des
Gesanges, ohne ihn zu bemerken, einmal flüchtig umwandte, und er bei dem Sonnenstreif,
der durch die Zweige gerade auf ihr Gesicht fiel, nicht nur eine auffallende Ähnlichkeit
mit dem Mädchen, das ihm damals in der Mühle hinaufgeleuchtet, bemerkte, sondern in
dieser Kleidung und Umgebung vielmehr jenes wunderschöne Kind aus längstverklungener
Zeit wiederzusehen glaubte, mit der er als kleiner Knabe so oft zu Hause im Garten
gespielt, und die er seitdem nie wiedergesehen hatte. Jetzt fiel es ihm auch plötzlich
wie Schuppen von den Augen, daß dies dieselben Züge seien, die ihm in dem verlassenen
Gebirgsschlosse auf dem Bilde der heiligen Anna in dem Gesichte des Kindes Maria so sehr
aufgefallen waren.
Verwirrt durch so viele sich durchkreuzende, uralte Erinnerungen, ritt er auf das Mädchen
zu, da sie eben ihr Lied geendigt hatte. Sie aber, von dem Geräusche aufgeschreckt,
sprang, ohne sich weiter umzusehen, fort, und war bald in dem Walde verschwunden.
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