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Albertus -Magnus - Gymnasium Ettlingen
Literaturkurs 95 / 96

 
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Geben wir ihnen noch `ne Chance...
Magali Nieradka (Jgst.13, 95/96):

 










07.05.1997
Klemens Thamm

         
Geben wir ihnen noch `ne Chance...

Irgendwie is' es schon ätzend. Unsereins wünscht sich nix mehr, als in den wilden Siebzigern gelebt zu haben. Sex, Drugs and Rock n' Roll, Parties, die die ganze Nacht dauern, Demos, bei denen man mitmacht, egal für oder gegen was man ist, Friedenspfeifen, make love, not war,... . Alles total geil. Universal Love. Na ja, Pech gehabt, daß man erst in den wilden Seventies gestartet wurde. Aber dann denkt man doch, daß ein bißchen von dem Feeling in den Leuten von damals übriggeblieben sein muß.
Aber denkste! Ich brauch doch bloß meine Alten anzuschaun. Früher hatten sie alle beide Haare bis zu den Kniekehlen, verwaschene, zerrissene Jeans, 'ne Friedenspfeife für 'nen geilen Trip. Das würden die ja nie zugeben, daß sie mal so gewesen sind. Das ist ihre "wilde" Vergangenheit, die sorgfältig in einem Koffer auf dem Dachboden versteckt ist. Und wenn man sie auf damals anspricht, bekommt man nur die genuschelte Antwort: "Das ist lange her. Wir sind erwachsen geworden", und sie lächeln verschämt und werden rot.
Ach, ich habe noch nicht gesagt, wie sie heute 'rumhängen. 'Schuldigung, sie "hängen" ja nicht "rum", sie streben die Karriereleiter hoch.
In maßgeschneiderten Anzügen, immer tadellosem Haarschnitt - total konservativ.
Wenn die Musik zu laut wird, beklagen sie sich über die Jugend von heute. Von so einem "Lärm" wie Rolling Stones, Jimmy Hendrix oder Janis Japlin bekommen sie Kopfschmerzen. Stattdessen gehen sie ins Kammerkonzert. Und sagen, daß dies die einzige Musik wäre. Nix gegen die alten Herren wie Mozart, Beethoven, Händel, usw. , aber auf die Dauer werden sie doch auch öde. Aber wieder zurück zu meinen Alten. Das Motto der ´68er war doch, sich von seinen Alten zu unterscheiden, nicht so pingelig zu sein, nicht so nach Materiellem zu streben, die Statussymbole abzuschaffen, links- und weltoffen zu sein.
Aber was ist aus ihnen geworden? Geschniegelt kuschen sie vor ihrem Chef, streben nach oben, futtern Aufputschmittel, nicht, um gut drauf zu sein und die Nacht durchzufeiern, sondern um die Überstunden durchzustehen. Mit vierzig sind sie dann kurz vor dem Herzkasper, um an die Statussymbole - wie den dicken Benz - 'ranzukommen. Angeblich alles für uns. Da hat man also den Vizechef des Konzerns zum Vater und eine emanzipierte Chefärztin als Mutter und wächst dann als Schlüsselkind auf. Erzkonservative Karrierejuppies, dabei wollten sie doch ganz anders sein... .
Da hätte man mal 'nen gemeinsamen Nenner, die "Flower-Power"-Hippiezeit, und die weichen aus. Wenn ich mir schulterlange Peaceohrringe 'reinstecke, 'nen superkurzen Mini anziehe und Janis Joplins " Freedom is just another word for nothing else to loose" mir mit voll der Dröhnung 'reinziehe, dann schlagen sie die Hände über dem Kopf zusammen - wenn ich im Zimmer bin.
Schau ich aber zufällig - heimlich - rein, dann höre ich sie mitsummen, mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen. Schön leise, daß keiner sie hört. Ich glaub', sie sind noch nicht ganz verloren.

Leserbriefe an Magali Nieradka von der Bishop´s University in Lennoxville, Québec, Canada

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