AMG          

Albertus -Magnus - Gymnasium Ettlingen
Literaturkurs 95 / 96

 
Mail          

Begegnung mit Radi Kurzgeschichte nach einer Exposition von Wolfgang Borchert (1921-1947)
Natalia Goette (Jgst.13, 95/96)

 










07.05.1997
Klemens Thamm

         
"Heute nacht war Radi bei mir. Er war blond wie immer, und er lachte in seinem weichen breiten Gesicht. Auch seine Augen waren wie immer: etwas ängstlich und etwas unsicher. Auch die paar blonden Bartspitzen hatte er.
Alles wie immer.
Du bist doch tot, Radi, sagte ich.
Ja, sagte er, lach bitte nicht."

Ich lachte auch nicht. Ich wollte schreien, ich bewegte meinen Mund, aber es kam kein Laut heraus. Da war wieder das Bild: Helge starrte mich wütend an. Ich hatte mit heiserer Stimme gesagt: "Nein, ich komme nicht mit, ich bleibe mit Radi hier sitzen." Der widerliche Kerl Helge ging langsam auf Radi zu, der neben mir auf dem Bett saß und mich treuherzig anblickte. Plötzlich fühlte ich, daß Radi in Gefahr war. Ich bemerkte, wie Helge die Gesichtsmuskulatur anspannte. Er streckte seine unglaublich groben, großen Hände nach ihm aus. Es war, als wiche Radi ein Stück zurück. Jetzt packte er ihn und riß ihn empor. Ich wollte ihn festhalten, aber meine Arme lagen wie Bleifässer neben mir. Noch einmal versuchte ich, meine Arme in Bewegung zu setzen, aber vergeblich. Sie klebten auf dem Bett und regten sich nicht. Jetzt schwang Helge ihn noch weiter nach oben, Radis große, braune Augen wurden noch ängstlicher, und es spiegelte sich ein Entsetzen darin wider. Er wollte schreien, aber schon wurde er im großen Bogen in Richtung Bettkante geschleudert. Ich hörte den Aufprall schon, bevor er mit dem Genick auf der Bettkante ankam. Ein dumpfer, hohler Schlag, und dann... Stille. Ich wollte nicht hinschauen, aber dann blinzelte ich doch. Radi lag schlaff vor dem Bett auf dem Rücken. Ängstlicher als sonst und sehr hilflos, fast ein bißchen vorwurfsvoll schienen seine Augen auf mich zu blicken, beinahe als wolle er sagen: "Hättest Du mich nicht retten können?"
Ich sah mein Leben mit ihm Revue passieren, obwohl ich es eigentlich nicht wollte. Es wurde alles nur noch schlimmer, Ich konnte aber nicht anders. Er hatte mich schon immer überall hin begleitet, war mir immer treu gewesen. Wir hatten schon viele gemeinsame Reisen unternommen. Wir saßen zusammen im Auto, und ich streichelte zärtlich seine paar blonden Bartspitzen, und er lachte in seinem weichen breiten Gesicht. Er gab mir eine Sicherheit, in seiner Nähe fühlte ich mich geborgen. Niemals hatte er mich im Stich gelassen. Außerdem war er sehr gut erzogen, blamiert hatte er mich nie.
Plötzlich fühlte ich, daß ich schweißgebadet war. Meine Kleidung klebte an meiner Haut, ich zitterte vor Kälte. Ich tastete um mich herum, um herauszufinden, wo ich war. Ich konnte meine Gedanken kaum klar ordnen. Auf einmal fühlte ich, ja ich fühlte ein paar Bartspitzen! Ein Gefühl, wie ich es eigentlich gewöhnt war, aber irgendwie sprach etwas dagegen. Ich tastete mich vom Kopfkissen zum Nachttisch bis zur Lampe vor. Ich schaltete das Licht ein, und da lag er, mein heißgeliebter Teddybär Radi, blond wie immer, und er lachte in seinem weichen, breiten Gesicht. Auch seine Augen waren wie immer: etwas ängstlich und unsicher. Auch die paar blonden Bartspitzen hatte er.
Alles wie immer.

prosa